DER MONTAG NACH DEM EINZUG IN JERUSALEM 1. DER TAG

nach Maria Valtorta

Jesus verläßt rasch das Zelt eines Galiläers, dort auf dem Plateau des Ölberges, wo viele Galiläer sich anläßlich der Feste versammeln. Das Lager schläft unter dem Schein des Mondes, der langsam untergeht und die Zelte, die Bäume, die Hügel und die in der Tiefe ruhende Stadt in sein reines, silbernes Licht taucht.

Jesus geht sicher und geräuschlos zwischen den Zelten hindurch. Nachdem er das Lager verlassen hat, eilt er den steilen Weg nach Gethsemane hinunter, läßt diesen hinter sich, überquert die kleine Brücke des Kedron – ein silbernes Band, dass im Mondschein glitzert – und kommt zu dem von Legionären bewachten Tor. Es ist dies wohl eine Vorsichtsmaßnahme des Prokonsuls, bei Nacht Wachen an die geschlossenen Tore zu stellen. Die Soldaten, es sind vier, sitzen auf großen Steinen, die als Bänke dienen, an der mächtigen Mauer. Sie unterhalten sich und wärmen sich an einem Reisigfeuerchen, dass einen rötlichen Lichtschein auf die glänzenden Harnische und die gestrengen Helme wirft, unter denen Gesichter zu sehen sind, deren italienische Physiognomie so verschieden von der hebräischen ist.

«Wer geht da?» fragt der erste, der die hohe Gestalt Jesu an der Ecke eines kleinen Hauses nahe beim Tor erscheinen sieht. Er ergreift den Speer mit der scharfen Spitze, den er an die Mauer gelehnt hatte, nimmt die vorgeschriebene Haltung an, und die anderen tun desgleichen. Ohne Jesus Zeit zu einer Antwort zu lassen, sagt er gleich darauf: «Wir können dich nicht hineinlassen. Weißt du nicht, dass die zweite Nachtwache sich schon ihrem Ende nähert?»

«Ich bin Jesus von Nazareth. Meine Mutter ist in der Stadt. Ich gehe zu ihr.»

«Oh, der Mann, der den Toten von Bethanien auferweckt hat! Beim Jupiter! Nun sehe ich ihn endlich!» Und er geht zu ihm hin und betrachtet ihn neugierig von allen Seiten, wie um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um etwas Unwirkliches, um etwas Sonderbares handelt, sondern um einen Menschen wie alle anderen. Schließlich sagt er: «0 ihr Götter! Er ist schön wie Apollo, aber sonst genau wie wir. Und er hat weder einen Stab noch eine Mütze noch sonst ein Zeichen seiner Macht!» Der Soldat ist ganz perplex. Jesus schaut ihn geduldig an und lächelt ihm freundlich ZU.

Die anderen, die weniger neugierig zu sein scheinen, weil sie Jesus vielleicht schon öfter gesehen haben, sagen: «Es wäre gut gewesen, wenn er um die Mitte der ersten Nachtwache hier gewesen wäre, als das schöne Mädchen zu Grab getragen wurde, dass heute früh gestorben ist. Wir hätten sie dann auferstehen sehen...»

Jesus wiederholt sanft: «Kann ich zu meiner Mutter gehen?»

Die vier Soldaten halten Rat. Dann sagt der älteste: «Die Vorschrift verbietet uns eigentlich, um diese Stunde jemanden passieren zu lassen. Doch du würdest sowieso hineinkommen. Für einen, der die Pforten des Hades bezwingt, sind auch die verschlossenen Tore einer Stadt kein Hindernis. Zudem bist du nicht einer, der Aufruhr anzettelt. Also gilt das Verbot nicht für dich. Laß dich aber nicht von den Wachen in der Stadt erwischen. Mach auf, Marcus Gratus. Und du, versuche kein Geräusch zu machen. Wir sind Soldaten und müssen gehorchen...»

«Keine Angst, eure Güte wird euch keine Strafe einbringen.»

Einer der Legionäre öffnet vorsichtig die kleine Tür in dem riesigen Tor und sagt: «Beeile dich. Gleich ist die zweite Nachtwache zu Ende und wir werden von den anderen abgelöst.»

«Der Friede sei mit euch.»

«Wir sind Krieger...»

«Auch im Krieg bleibt der Friede, den ich euch gebe; denn es ist der Friede der Seele.»

Jesus taucht im Dunkel des Mauerbogens unter und geht leise an der Wachstube vorbei, aus deren Tür das flackernde Licht einer Öllampe dringt; einer einfachen Lampe, die an einem Haken von der niedrigen Decke hängt und die Körper schlafender Soldaten auf am Boden ausgebreiteten Matten erkennen läßt, alle in ihre Mäntel eingehüllt und die Waffen an der Seite.

Jesus ist nun in der Stadt... und ich verliere ihn aus den Augen, während ich zwei Soldaten von zuvor beobachte, die wieder hereinkommen und nachsehen, ob er verschwunden ist, bevor sie in die Wachstube gehen, um die Schlafenden zu wecken und sich ablösen zu lassen.

«Man sieht ihn schon nicht mehr... Was wollte er wohl mit diesen Worten sagen? Das würde ich gerne wissen», sagt der jüngere.

«Du hättest ihn fragen sollen. Er verachtet uns nicht. Er ist der einzige Hebräer, der uns nicht verachtet und uns in keiner Weise beleidigt», antwortet der andere, der schon im besten Mannesalter ist.

«Ich habe es nicht gewagt. Ich bin nur ein Bauer aus Beneventum und soll mit einem reden, von dem man sagt, er sei ein Gott?»

«Ein Gott auf einem Esel? Ha, ha! Wenn er betrunken wie Bacchus wäre, könnte er ein Gott sein. Aber er ist nicht betrunken. Ich glaube, er trinkt nicht einmal Mulsum 1). Siehst du nicht, wie blaß und mager er ist?»

«Aber die Hebräer...»

«Die trinken schon, obwohl sie so tun, als täten sie es nicht. Und betrunken vom starken Wein und dem Most dieser Gegend, haben sie Gott

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1) Mulsum: mit Honig gemischter Wein.

in einem Menschen gesehen. Glaube mir. Die Götter sind Hirngespinste. Der Olymp ist leer, und auch auf der Erde gibt es keine.»

«Wenn sie dich hören würden...!»

«Du bist noch so ein Kind, dass du nicht mitreden kannst und nicht weißt, dass selbst der Caesar, die Auguren, die Haruspizes, die Arvales und die Vestalinnen nicht an die Götter glauben, noch sonst irgend jemand.»

«Aber warum dann...»

«Warum die Riten? Nun, weil sie dem Volk gefallen, den Priestern nützen und dem Caesar dazu dienen, sich Gehorsam zu verschaffen, als wäre er ein irdischer Gott, den die olympischen Götter an der Hand führen. Doch die ersten, die nicht daran glauben, sind die, die wir als Diener der Götter ehren. Ich bin Pyrrhonianer und habe die Welt bereist. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt. Meine Haare sind schon ergraut an den Schläfen, und mein Denken ist gereift. Mein persönlicher Kodex besteht aus drei Grundregeln: Rom, die einzige Göttin und einzige gewissheit, lieben bis zum Opfer des Lebens. Nichts glauben, denn alles, was uns umgibt, ist nur Erscheinungsform, mit Ausnahme des heiligen, unsterblichen Vaterlandes. Sogar an uns selbst müssen wir zweifeln, denn es ist auch ungewiß, ob wir wirklich leben. Verstand und Sinne genügen nicht, um uns die Sicherheit zu geben, dass wir zur Wahrheit gelangen können. Leben und Sterben haben den gleichen Wert, denn wir wissen nicht, was Leben ist, und wir wissen nicht, was Sterben ist», sagt er und trägt dabei die Überlegenheit des philosophischen Skeptizismus zur Schau.

Der andere schaut ihn unsicher an. Dann sagt er: «Ich hingegen glaube. Ich würde gerne wissen... Ich würde gerne den Mann fragen, der soeben vorbeigekommen ist. Er kennt gewiss die Wahrheit. Etwas Eigenartiges geht von ihm aus. Es ist wie ein Licht, dass ins Innere dringt!»

«Äskulap möge dich retten! Du bist krank! Du bist erst vor kurzem aus dem Tal zur Stadt heraufgekommen, und wer eine solche Reise unternimmt, wird leicht von Fieber befallen. Du bist noch nicht an diese Gegend gewöhnt. Du fieberst. Komm, dass einzig sichere Mittel, um durch Schwitzen das Gift des jordanischen Fiebers aus den Poren zu treiben, ist der heiße Würzwein», und er drängt ihn zur Wachstube.

Doch der andere befreit sich und sagt: «Ich bin nicht krank. Ich will keinen heißen Würzwein. Ich will hier außen an der Mauer wachen (dabei zeigt er auf die Innenseite der Bastion) und auf den Mann warten, der sich Jesus nennt.»

«Wenn es dir Spaß macht, zu warten... Ich gehe die Ablösung wecken. Leb wohl...»

Er betritt geräuschvoll die Wachstube, weckt die Kameraden und ruft: «Es ist Zeit. Auf, ihr lahmen Faulpelze! Ich bin müde ...» dann gähnt er vernehmlich und flucht, denn sie haben das Feuer ausgehen lassen und den ganzen heißen Wein getrunken, «der so nötig ist, um diesen palästinensischen Tau zu trocknen...»

Der andere, der junge Legionär, lehnt sich an die vom sinkenden Mond beschienene Mauer und wartet darauf, dass Jesus zurückkommt. Die Sterne wachen über seiner Hoffnung...

Jesus ist inzwischen am Haus des Lazarus auf dem Berg Sion angelangt und klopft. Levi öffnet ihm.

«Du, Meister?! Die Herrinnen schlafen noch. Warum hast du nicht einen Diener geschickt, wenn du etwas brauchst?»

«Sie hätten ihn nicht durchgelassen.»

«Ah, ja, dass stimmt. Aber wie bist du hereingekommen?»

«Ich bin Jesus von Nazareth. Und die Legionäre haben mich passieren lassen. Aber darüber soll man nicht reden, Levi.»

«Ich werde nichts sagen... Sie sind besser als viele von uns.»

«Führe mich dorthin, wo meine Mutter schläft, und wecke sonst niemanden im Haus.»

«Wie du willst, Herr. Der Befehl des Lazarus an alle seine Hausverwalter lautet, dir in allem zu gehorchen, ohne Widerrede und Verzug. Die Sonne war kaum aufgegangen, als ein Bote, viele Boten, ihn in alle Häuser brachten. Gehorchen und schweigen. Wir werden es tun. Du hast uns unseren Herrn wiedergegeben...»

Der Mann trottet voraus durch die weiten Korridore, die wie Galerien den herrlichen Palast des Lazarus auf dem Berg Sion durchziehen. Die Lampe, die er in der Hand hält, erzeugt fantastische Lichtspiele auf den Möbeln und Wandteppichen, die diese weiten Gänge schmücken. Schließlich bleibt er vor einer verschlossenen Tür stehen. «Hier ist deine Mutter.»

«Geh nur.»

«Und die Lampe? Willst du sie nicht haben? Ich kann im Dunkeln zurückgehen. Ich kenne mich im Haus aus. Ich bin hier geboren.»

«Laß sie hier und zieh den Schlüssel nicht von der Tür ab. Ich gehe gleich wieder.»

«Du weißt, wo du mich findest. Ich werde die Tür vorsichtshalber abschließen, aber ich werde bereit sein, sie bei deinem Kommen sofort zu öffnen.»

Jesus bleibt allein. Er klopft leise an. Es ist ein so leises Klopfen, dass nur einer, der ganz wach ist, es hören kann.

Ein Geräusch im Zimmer, wie das Verrücken eines Stuhls. Dann leise Schritte und eine gedämpfte Stimme: «Wer klopft?»

«Ich, Mama, öffne mir.»

Die Tür öffnet sich sofort. Nur der Mondschein erhellt den stillen Raum und wirft seine Strahlen auf das unbenutzte Bett. Ein Stuhl steht am Fenster, dass weit offen ist für das Geheimnis der Nacht.

«Du hast noch nicht geschlafen? Es ist schon spät!»

«Ich habe gebetet... Komm, mein Sohn. Setz dich hierher, wo ich gesessen bin.» Maria zeigt auf den Stuhl am Fenster.

«Ich kann nicht bleiben. Ich bin gekommen, um dich zu holen, damit du mit mir nach Ophel zu Elisa gehst. Annalia ist gestorben. Habt ihr es noch nicht erfahren?»

«Nein, niemand... Wann, Jesus?»

«Nachdem ich vorübergeritten war.»

«Nachdem du vorübergeritten warst! So warst du also für sie der Engel der Befreiung?! Diese Erde war für sie nur ein Gefängnis. Die Glückliche! Ich möchte an ihrer Stelle sein! Ist sie... eines natürlichen Todes gestorben? Ich meine, nicht durch ein Unglück?»

«Sie ist aus Liebesfreude gestorben. Sie wußte, dass ich im Begriff war, zum Tempel hinaufzusteigen. Komm mit mir, Mama. Wir fürchten nicht, uns zu verunreinigen, wenn wir eine Mutter trösten, die in ihren Armen die Tochter gehalten hat, die aus übernatürlicher Freude gestorben ist... Unsere erste Jungfrau! Jene, die zu dir nach Nazareth gekommen ist, um mich zu suchen und diese Freude von mir zu erbitten... Ferne, frohe Tage.»

«Vorgestern hat sie noch wie eine verliebte Mönchsgrasmücke gezwitschert, mich geküßt und gesagt: „Ich bin glücklich!“ Sie war begierig, alles über dich zu erfahren. Wie Gott dich gebildet hat. Wie er mich erwählt hat, und welches meine ersten Gefühle als geweihte Jungfrau waren... Nun verstehe ich... Ich bin bereit, Sohn.»

Maria hat sich beim Sprechen die Zöpfe aufgesteckt, die ihr über die Schultern gehangen sind und ihr das Aussehen eines so jungen Mädchens geben, und den Schleier und den Mantel umgelegt.

Sie gehen hinaus, so leise als möglich. Levi ist schon an der Tür. Er erklärt: «Ich habe es vorgezogen... wegen meiner Frau... Die Frauen sind neugierig. Sie hätte mir hundert Fragen gestellt. So weiß sie nichts...

Er öffnet und will schon wieder schließen, als Jesus sagt: «Noch innerhalb dieser Nachtwache werde ich meine Mutter zurückbringen.»

«Ich werde hier in der Nähe warten. Hab keine Sorge.»

«Der Friede sei mit dir.»

Sie gehen durch stille, verlassene Straßen, aus denen sich der Mondschein langsam zurückzieht, um auf den hohen Häusern des Sion-Berges zu verweilen. Heller ist es im Vorort Ophel wegen der bescheidenen, niedrigen Häuser.

Da ist nun das Haus Annalias. Verschlossen, dunkel und schweigend. Verwelkte Blumen liegen noch auf den Stufen des Hauses. Vielleicht sind es jene, die die Jungfrau vor ihrem Tod gestreut hat, oder sie sind von der Totenbahre heruntergefallen...

Jesus klopft an die Tür. Er klopft noch einmal...

Das Geräusch eines Fensterladens, den man oben öffnet, und eine traurige Stimme: «Wer klopft?»

«Maria und Jesus von Nazareth», antwortet Maria.

«Oh! Ich komme...!»

Nach Kurzem wird der Riegel zurückgeschoben. Die Tür öffnet sich und es erscheint das verstörte Gesicht Elisas, die sich mit Mühe auf den Beinen hält und sich an den Türpfosten stützt. Und als Maria beim Eintreten die Arme öffnet, wirft sie sich an ihre Brust, mit dem schwachen Schluchzen eines Menschen, der schon viele Tränen vergossen und keine Kraft mehr hat, laut zu weinen.

Jesus schließt die Tür und wartet geduldig, bis seine Mutter diesen Schmerz beruhigt hat. Ein Raum ist neben der Tür. Dort hinein gehen sie. Jesus trägt die Lampe, die Elisa am Eingang auf den Boden gestellt hat, um die Tür zu öffnen.

Das Weinen der Frau scheint kein Ende nehmen zu wollen. Unter heiserem Schluchzen spricht sie mit Maria. Die Mutter spricht zur Mutter. Jesus steht an der Wand und schweigt... Elisa kann diesen Tod, der so plötzlich eingetreten ist, nicht begreifen... In ihrem Gram gibt sie dem ungetreuen Bräutigam Samuel die Schuld: «Er hat ihr das Herz gebrochen, dieser Verfluchte! Sie hat es nicht gesagt, aber wer weiß, wie sehr sie darunter gelitten hat! In ihrer Freude, in dem Aufschrei, hat ihr Herz versagt. Er sei auf ewig verflucht.»

«Nein, meine Liebe. Nein. Verfluche ihn nicht. Es ist nicht so. Gott hat sie so sehr geliebt, dass er sie im Frieden wollte. Aber selbst wenn sie wegen Samuel gestorben wäre – sie ist es nicht, wir wollen dies nur für einen Augenblick annehmen – so denke daran, welch freudiger Tod der ihre war, und sage dir, dass diese böse Tat ihr einen so glücklichen Tod brachte.»

«Ich habe sie nicht mehr! Sie ist gestorben! Sie ist gestorben! Du weißt nicht, was es heißt, eine Tochter zu verlieren! Ich habe zweimal diesen Schmerz verkostet, denn ich hatte sie schon als Tote beweint, als dein Sohn sie mir geheilt hat. Aber nun, aber nun... Er ist nicht wiedergekommen. Er hat kein Mitleid gehabt... Ich habe sie verloren! Verloren! Mein Kind ist schon im Grab! Weißt du, was es heißt, ein Kind sterben zu sehen? Zu wissen, dass es sterben muss? Es tot zu sehen, wenn man es gesund und kräftig glaubte? Du weißt es nicht! Du kannst nicht reden... Sie war schön wie eine Rose, die sich unter den ersten Strahlen der Sonne öffnet, als sie sich heute morgen schmückte. Sie wollte sich mit dem Kleid schmücken, dass ich ihr für die Hochzeit gemacht hatte. Sie wollte sich wie eine Braut bekränzen. Dann hat sie den schon fertigen Kranz wieder aufgelöst, um die Blütenblätter deinem Sohn zuzuwerfen, und dabei hat sie gesungen! Sie hat gesungen! Ihre Stimme hat das ganze Haus erfüllt. Sie war lieblich wie der Frühling. Die Freude ließ ihre Augen wie Sterne leuchten, die geöffneten Lippen über den schneeweißen Zähnen waren purpurrot wie das Fruchtfleisch eines Granatapfels, und die Wangen waren frisch und rot wie junge taugeschmückte Rosen. Dann wurde sie weiß wie eine eben erblühte Lilie und fiel an meine Brust wie ein geknickter Blütenstiel... Kein Wort mehr! Kein Seufzer mehr! Keine Farbe mehr! Kein Blick mehr! Friedlich, schön wie ein Engel Gottes, aber ohne Leben. Du weißt nicht, was mein Schmerz ist, denn du freust dich über den Triumph deines Sohnes, der gesund und kräftig ist. Warum ist er nicht zurückgekommen? Worin hat sie ihm mißfallen, und ich mit ihr, dass er kein Mitleid mit meiner Bitte gehabt hat?»

«Elisa, Elisa, sage so etwas nicht... Der Schmerz macht dich blind und taub... Elisa, du kennst meine Leiden nicht, und du kennst nicht das tiefe Meer, dass mein Leiden sein wird. Du hast sie ruhig, schön und in Frieden erkalten sehen, in deinen Armen. Ich... ich betrachte seit mehr als drei Jahrzehnten mein Geschöpf, und über das glatte, reine Fleisch hinaus, dass ich betrachte und liebkose, sehe ich die Wunden des Mannes der Schmerzen, der mein Sohn sein wird. Du, du sagst, dass ich nicht verstehen kann, was es heißt, ein Kind zweimal sterben und dann im Frieden zu sehen, weißt du, was es für eine Mutter bedeutet, dreißig Jahre lang diese Vision zu haben? Mein Sohn! Er ist schon rot gekleidet, als ob er aus einem blutigen Bad steigen würde. Und bald, sehr bald, bevor noch das Antlitz deiner Tochter im Grab dunkel wird, werde ich ihn mit dem Purpur seines unschuldigen Blutes bekleidet sehen. Mit dem Blut, dass ich ihm gegeben habe. Du konntest deine Tochter in deine Arme nehmen... Begreifst du, was für ein Schmerz es für mich sein wird, meinen Sohn wie einen Missetäter am Holz sterben zu sehen? Sieh ihn an, den Erlöser aller! Im Geist und im Fleisch. Denn das Fleisch der von ihm Erlösten wird unverwest und selig in seinem Reich leben. Sieh mich an. Sieh diese Mutter an, die Stunde um Stunde den Sohn zum Opfer begleitet und führt -oh! denn ich würde ihn nie zurückhalten. Ich kann dich verstehen, arme Mutter. Aber du sollst auch mein Herz verstehen! Hasse meinen Sohn nicht. Annalia hätte den Todeskampf ihres Herrn nicht ertragen. Und ihr Herr hat ihr die Seligkeit geschenkt in einer Stunde der Freude.»

Elisa hat bei dieser Offenbarung zu weinen aufgehört. Sie betrachtet Maria, ihr bleiches, von lautlosen Tränen überströmtes Märtyrergesicht, und dann Jesus, der sie mitleidsvoll anschaut... Und sie gleitet zu Boden zu Füßen Christi und stöhnt: «Aber sie ist gestorben! Sie ist gestorben, Herr! Wie eine Lilie, eine geknickte Lilie! Von dir sagen die Dichter, dass es dir gefällt, unter Lilien zu weilen! Oh, wahrlich, du, der aus der Lilie Maria Geborene, gehst oft hinunter zu den blühenden Beeten, machst aus purpurnen Rosen weiße Lilien und pflückst sie, indem du sie aus der Welt nimmst. Warum? Warum Herr?! Ist es nicht recht, dass eine Mutter sich der von ihr geborenen Rose erfreut? Warum den Purpur im kalten Tod der weißen Lilie auslöschen?»

«Die Lilien, sie werden das Symbol jener sein, die mich lieben, wie meine Mutter Gott geliebt hat. Das weiße Blumenbeet des göttlichen Königs.»

«Aber wir Mütter werden weinen. Wir Mütter haben ein Recht auf unsere Kinder. Warum sie aus dem Leben nehmen?»

«Ich meine es nicht so, Frau. Sie werden eure Töchter bleiben, aber dem König geweiht sein, wie die Jungfrauen in den Palästen Salomons. Denke an das Hohelied... Sie werden geliebte Bräute sein, auf Erden wie im Himmel.»

«Aber mein Kind ist tot! Tot!» Das herzzerbrechende Weinen beginnt erneut.

«Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und wahrlich, ich sage dir, er wird in Ewigkeit nicht sterben. Deine Tochter lebt. Sie wird ewig leben, denn sie hat an das Leben geglaubt. Mein Tod wird ihr Leben vollenden. Sie hat die Freude gekannt, in mir zu leben, bevor sie den Schmerz kannte, mich dem Leben entrissen zu sehen. Dein Schmerz macht dich blind und taub. Meine Mutter hat die Wahrheit gesagt. Aber bald wirst du die Worte wiederholen, die ich dir heute morgen habe sagen lassen: „Wahrlich, ihr Tod war eine Gnade Gottes.“ Glaube es, Frau. Das Furchtbare wartet schon in dieser Stadt. Der Tag wird kommen, da die wie du getroffenen Mütter sagen werden: „Gott sei gepriesen, weil er unseren Kindern diese Tage erspart hat.“ Die nicht getroffenen Mütter werden zum Himmel schreien: „Warum, o Gott, hast du unsere Kinder nicht vor dieser Stunde sterben lassen?“ Glaube es, Frau. Glaube meinen Worten. Errichte zwischen dir und Annalia nicht die tatsächlich trennende Schranke: die des Unterschiedes im Glauben. Siehst du, ich hätte auch wegbleiben können. Du weißt, wie sehr man mich haßt. Laß dich nicht durch den Triumph einer Stunde täuschen! ... Jeder Winkel kann eine Gefahr für mich bergen. Aber ich bin allein und in der Nacht gekommen, um dich zu trösten und dir diese Worte zu sagen. Ich habe Mitleid mit dem Schmerz einer Mutter. Und ich bin gekommen, um dir diese Worte um deines Seelenfriedens willen zu sagen. Der Friede sei mit dir, der Friede.»

«Schenke du ihn mir, Herr! Ich kann nicht! Ich kann in meinem Schmerz keinen Frieden finden. Aber du, der du den Toten das Leben wiedergibst und den Sterbenden die Gesundheit, gib dem Herzen einer gequälten Mutter den Frieden.»

«So sei es, Frau! Der Friede sei mit dir.» Er legt ihr die Hände auf, segnet sie und betet schweigend über ihr. Maria ist neben Elisa niedergekniet und hat einen Arm um sie gelegt.

«Leb wohl, Elisa. Ich gehe ...»

«Werden wir uns nicht wiedersehen, Herr? Ich werde nun viele Tage das Haus nicht verlassen, und du wirst nach dem Osterfest fortgehen. Du... bist noch ein wenig ein Teil meiner Tochter... denn Annalia... denn Annalia lebte in dir und für dich.» Sie weint, ruhiger, aber wie sehr weint sie.

Jesus schaut sie an... Er streichelt das graue Haupt und sagt: «Du wirst mich wiedersehen.»

«Wann?»

«In acht Tagen.»

«Und du wirst mich noch einmal trösten? Mich segnen, um mir Kraft zu geben?»

«Mein Herz wird dich segnen mit der ganzen Fülle meiner Liebe für jene, die mich lieben. Komm, Mutter.»

«Mein Sohn, wenn du erlaubst, möchte ich noch bei dieser Mutter bleiben. Der Schmerz ist eine Sturmflut, die wiederkehrt, wenn der gegangen ist, der sie beruhigen kann... Ich werde um die erste Stunde nach Hause zurückkehren. Ich fürchte mich nicht, allein zu gehen. Du weißt es. Und du weißt auch, dass ich durch ein ganzes feindliches Heer gehen würde, um einen Bruder in Gott zu trösten.»

«Es sei, wie du willst. Ich gehe. Gott sei mit euch.»

Geräuschlos geht er hinaus, schließt hinter sich die Tür des Zimmers und dann die des Hauses. Er begibt sich zur Stadtmauer, zum Tor von Ephraim oder zum Stercoraria- oder Misttor. Ich habe diese nahe beieinanderliegenden Tore oft mit diesen drei Namen nennen gehört, vielleicht, weil eines auf die Straße nach Jericho, also auch nach Ephraim hinausführt, und das andere in der Nähe des Hinnom-Tals liegt, wo man die Abfälle der Stadt verbrennt. Die beiden Tore sind sich zum Verwechseln ähnlich.

Der Himmel hellt sich am östlichen Horizont schon auf, obgleich er noch voller Sterne ist. Die Straßen sind in ein Halbdunkel gehüllt, in dem man noch weniger sieht als im vom Mondlicht durchfluteten Dunkel der Nacht.

Doch der römische Soldat hat gute Augen, und als er Jesus auf das Tor zukommen sieht, geht er ihm entgegen.

«Salve. Ich habe auf dich gewartet...» Er hält zögernd inne.

«Sprich ohne Furcht. Was willst du von mir?»

«Ich möchte etwas wissen. Du hast gesagt: „Der Friede, den ich gebe, bleibt auch im Krieg, denn es ist der Friede der Seele.“ Ich möchte wissen, was das für ein Friede ist und was die Seele ist. Wie kann ein Mensch, der sich im Krieg befindet, im Frieden sein? Wenn der Tempel des Janus geöffnet wird, schließt man den Tempel des Friedens. Beides kann es nicht gleichzeitig geben auf der Welt.» Er spricht, an das grünliche Mäuerchen eines Gartens gelehnt, in einem Gäßchen zwischen ärmlichen Häusern, so schmal wie ein Fußpfad durch die Felder. Es ist hier feucht, düster und dunkel. Abgesehen von einem schwachen Schimmer auf dem glänzenden Helm ist von den beiden, die miteinander sprechen, nichts zu sehen. Gesichter und Gestalten lösen sich auf in der Schwärze der Nacht.

Die Stimme Jesu klingt klar und hell in der Freude, einen Samen des Lichtes in den Heiden säen zu können. «Wahrlich, in der Welt können Friede und Krieg nicht nebeneinander bestehen. Das eine schließt das andere aus. Aber im Krieger kann Friede sein, auch wenn er dem Befehl folgt und Schlachten schlägt. Mein Friede kann in ihm sein. Denn mein Friede kommt vom Himmel, und Kriegsgetöse und heftige Kämpfe können ihm nichts anhaben. Er ist von Gott und erfüllt das Göttliche im Menschen, dass Seele genannt wird.»

«Das Göttliche? In mir? Der Caesar ist göttlich. Ich bin nur ein Bauernsohn. Nun bin ich ein Legionär ohne Rang. Und wenn ich tapfer bin, kann ich vielleicht Centurio werden. Aber göttlich nie.»

«Es ist etwas Göttliches in dir. Es ist die Seele, die von Gott kommt. Vom wahren Gott. Daher ist sie göttlich, dieser lebendige Edelstein im Menschen, und von Göttlichem nährt sie sich und lebt sie: dem Glauben, dem Frieden und der Wahrheit. Der Krieg kann sie nicht beunruhigen, die Verfolgung sie nicht verletzen, der Tod sie nicht töten. Nur das Böse, die böse Tat verletzt und tötet sie und raubt ihr auch den Frieden, den ich gebe. Denn das Böse trennt den Menschen von Gott.»

«Und was ist das Böse?»

«Im Heidentum zu verharren und die falschen Götter anzubeten, nachdem die Güte des wahren Gottes die Seele erkennen läßt, dass es einen wahren Gott gibt; Vater und Mutter, die Brüder und den Nächsten nicht lieben; stehlen, töten, Unzucht treiben und lügen, dass ist das Böse.»

«Ach, dann kann ich deinen Frieden nicht haben! Ich bin Soldat und habe den Befehl zu töten. Für uns gibt es also keine Rettung?!»

«Sei gerecht im Krieg wie im Frieden. Erfülle deine Pflicht ohne Übertreibung und Grausamkeit. Während du kämpfst und eroberst, denke daran, dass der Feind ein Mensch ist wie du, und dass in jeder Stadt Mütter und Mädchen sind wie deine Mutter und deine Schwestern. Sei daher tapfer, ohne ein Unmensch zu sein. So wirst du die Wege der Gerechtigkeit und des Friedens nicht verlassen, und mein Friede wird in dir bleiben.»

«Und dann?»

«Und dann? Was meinst du damit?»

«Nach dem Tod? Was wird aus dem Guten, dass ich getan habe, und was geschieht mit der Seele, die, wie du sagst, nicht stirbt, wenn man nichts Böses tut?»

«Sie lebt. Sie lebt, geschmückt mit ihren guten Werken, in einem jubelnden Frieden, der größer ist als jener, den man auf der Erde genießt.»

«Dann hat also in Palästina nur einer Gutes getan! Ich verstehe.»

«Wer?»

«Lazarus von Bethanien. Seine Seele ist nicht gestorben!»

«Wahrlich, er ist ein Gerechter. Doch viele sind wie er und sterben und stehen nicht wieder auf; aber ihre Seele lebt weiter im wahren Gott. Denn

die Seele hat eine andere Wohnung im Reich Gottes. Und wer an mich glaubt, wird in dieses Reich eingehen.»

«Auch ich, ein Römer?»

«Auch du, wenn du an die Wahrheit glaubst.»

«Was ist die Wahrheit?»

«Ich bin die Wahrheit und der Weg, auf dem man zur Wahrheit gelangt, und ich bin das Leben und gebe das Leben, denn wer die Wahrheit aufnimmt, nimmt das Leben auf.»

Der junge Soldat denkt nach... schweigt... Dann schaut er auf. Ein noch reines Jünglingsantlitz mit einem offenen, heiteren Lächeln. Er sagt. «Ich werde versuchen, mich an diese Worte zu erinnern und noch mehr zu erfahren. Sie gefallen mir...»

«Wie heißt du?»

«Vitalis. Ich stamme aus der Gegend um Beneventum, vom Land.»

«Ich werde mich deines Namens erinnern. Auch deine Seele wird vital sein, wenn du sie mit der Wahrheit nährst. Leb wohl. Das Tor wird geöffnet. Ich verlasse die Stadt.»

«Ave.»

Jesus geht rasch zum Tor und eilt den Weg entlang, der zum Kedron, nach Gethsemane und von dort zum Lager der Galiläer führt. Unter den Ölbäumen auf dem Berg holt er Judas von Kerioth ein, der ebenfalls zum Lager hinaufeilt, dass nun in Sicht kommt.

Judas erschrickt, als er sich Jesus gegenübersieht. Jesus schaut ihn fest an, ohne ein Wort zu sagen.

«Ich habe den Aussätzigen Lebensmittel gebracht. Aber... ich habe nur zwei in Hinnom und fünf bei Siloe gefunden. Die anderen sind alle geheilt. Sie sind noch dort, aber sie sind schon so sehr geheilt, dass sie mich gebeten haben, den Priester zu benachrichtigen. Ich bin im ersten Tageslicht hinuntergegangen, um danach frei zu sein. Die Sache wird viel Aufsehen erregen. Eine so große Anzahl von Aussätzigen, die alle gleichzeitig gesund geworden sind, nachdem du sie vor den Augen so vieler gesegnet hast!»

Jesus sagt nichts. Er läßt ihn reden... Er sagt weder: «Das hast du gut gemacht», noch sonst etwas über die Handlungsweise des Judas oder das Wunder, sondern bleibt plötzlich stehen, schaut den Apostel fest an und fragt ihn: «Nun? Hat sich etwas geändert, seit ich dir Freiheit und das Geld gelassen habe?»

«Was willst du damit sagen?»

«Dies: Ich frage dich, ob du dich geheiligt hast, seit ich dir Freiheit und Geld gelassen habe. Du verstehst mich schon... Ach! Judas! Denke daran! Denke immer daran: du bist der gewesen, den ich mehr als alle anderen geliebt habe und der mir weniger Liebe als alle anderen geschenkt hat. Sogar der Haß, den du gegen mich hegst, ist größer als der Haß des gehässigsten Pharisäers, da er gegen einen gerichtet ist, der dich als seinen Freund betrachtet. Und denke auch daran: Nicht einmal jetzt hasse ich dich, sondern ich verzeihe dir, soweit es in der Macht des Menschensohnes steht. Geh nun. Es gibt nichts mehr zu sagen zwischen dir und mir. Alles ist schon getan...»

Judas möchte etwas sagen, doch Jesus gibt ihm mit einer gebieterischen Geste zu verstehen, dass er weitergehen soll... Judas neigt das Haupt wie ein Besiegter und geht weiter...

Am Rand des Lagers der Galiläer warten schon die Apostel und die beiden Diener des Lazarus.

«Wo bist du gewesen, Meister? Und du, Judas? Seid ihr beisammen gewesen?»

Jesus kommt der Antwort des Judas zuvor: «Ich hatte einigen Herzen etwas zu sagen. Judas ist zu den Aussätzigen gegangen... Aber alle bis auf sieben sind geheilt.»

«Oh, warum bist du gegangen? Ich wollte doch mitkommen!» sagt der Zelote.

«Um frei zu sein, jetzt mit uns zu gehen. Gehen wir. Wir werden die Stadt durch das Herdentor betreten. Beeilen wir uns», sagt wiederum Jesus.

Er geht allen voran durch die Ölgärten. Sie reichen vom Lager, dass beinahe auf halbem Weg zwischen Bethanien und Jerusalem liegt, bis zum anderen Brückchen über den Kedron beim Herdentor.

Bauernhäuser liegen an den Hängen verstreut, und fast ganz unten am Fluß neigt sich ein zerzauster Feigenbaum über das Wasser. Jesus begibt sich zu diesem und schaut, ob unter den breiten, üppigen Blättern reife Feigen hängen. Doch der Baum hat nur viele unnütze Blätter an den Ästen, und keine einzige Frucht. «Du bist wie viele Herzen in Israel. Du hast keine Süßigkeit für den Menschensohn und kein Erbarmen. In Ewigkeit wirst du keine Frucht mehr tragen, und niemand wird mehr von dir essen», sagt Jesus.

Die Apostel sehen einander an. Der Zorn Jesu über den unfruchtbaren, vielleicht wilden Baum, verwundert alle. Aber sie sagen nichts. Erst etwas später, als sie den Kedron überschritten haben, fragt Petrus: «Wo hast du gegessen?»

«Nirgendwo.»

«Oh, dann hast du Hunger! Sieh, dort ist ein Hirte mit einigen weidenden Ziegen. Ich werde gehen und ihn um Milch für dich bitten. Ich bin gleich wieder da.» Petrus eilt mit großen Schritten davon und kehrt bald darauf vorsichtig mit einer Schüssel voll Milch zurück.

Jesus trinkt und gibt dann dem Hirtenjungen, der Petrus begleitet hat, die Schüssel mit einer Liebkosung zurück...

Sie betreten die Stadt und gehen zum Tempel hinauf. Nachdem Jesus den Herrn angebetet hat, geht er in den Hof, in dem die Rabbis ihren Unterricht erteilen.

Die Leute umdrängen ihn, und eine Mutter, die aus Citium gekommen ist, zeigt ihm ein Kind, das, wie ich glaube, durch eine Krankheit erblindet sein muss. Seine Augen sind weiß wie bei einem grauen Star oder etwas Ähnlichem.

Jesus heilt das Kind, indem er ihm mit den Fingern über die Augen streicht. Dann beginnt er sofort zu reden:

«Ein Mann kaufte Land und legte einen Weinberg an. Er baute ein Haus für die Weingärtner, einen Turm für die Wächter, Keller und eine Kelter zum Pressen der Trauben und übergab alles den Pächtern, denen er vertraute. Dann reiste er weit fort.

Als die Zeit kam, da die Weingärten Frucht tragen sollten, da die Reben genügend gewachsen waren, sandte der Herr des Weinberges seine Diener zu den Weingärtnern, um den Ertrag der Ernte abzuholen. Aber die Winzer überfielen diese Diener, verprügelten die einen und steinigten die anderen mit großen Steinen. Viele wurden verletzt und einige sogar getötet. Jene, die lebend zu ihrem Herrn zurückkehren konnten, erzählten ihm, was geschehen war. Der Herr ließ ihre Wunden behandeln und tröstete sie. Dann schickte er noch einmal eine größere Anzahl. Und die Winzer machten es mit diesen genauso wie mit den ersten.

Darauf sagte der Herr des Weinberges: „Nun werde ich meinen Sohn zu ihnen senden. Vor meinem Erben werden sie doch Achtung haben.“

Aber als die Weingärtner ihn kommen sahen und erfuhren, dass er der Erbe war, riefen sie einander zu und sagten: „Kommt, wir wollen uns zusammentun, um viele zu sein. Schleppen wir ihn hinaus an einen weit entfernten Ort und töten wir ihn. Dann gehört sein Erbe uns.“ Sie empfingen ihn mit vorgetäuschten Ehren, umringten ihn, als ob sie ihn feiern wollten, fesselten ihn, nachdem sie ihn geküßt hatten, schlugen ihn und schleppten ihn spottend zur Richtstätte, wo sie ihn töteten.

Nun sagt mir: Was wird der Vater und Herr tun, wenn er eines Tages bemerkt, dass sein Sohn, der Erbe seines Besitzes, nicht zurückkehrt? Wenn er entdeckt, dass seine Winzer zu Mördern seines Sohnes geworden sind? Die Winzer, denen er sein fruchtbares Land überlassen hat, damit sie es in seinem Namen bestellen, in den Genuß seines Ertrages gelangen und ihrem Herrn den gerechten Anteil davon abgeben.» Jesus blitzt mit seinen wie Sonnen flammenden Saphiraugen die um ihn Versammelten an, und besonders die Gruppen der einflußreicheren Juden, der Pharisäer und der Schriftgelehrten in der Menge. Niemand spricht.

«Antwortet! Wenigstens ihr, Lehrer Israels, sagt ein Wort der Gerechtigkeit, damit sich das Volk von der Gerechtigkeit überzeugt. Ich würde eurer Meinung nach nicht das richtige Wort sagen. So redet also ihr, damit das Volk nicht im Irrtum bleibt.»

Die Schriftgelehrten antworten nun gezwungenermaßen so: «Er wird die Frevler schwer bestrafen, sie auf grausame Art töten und den Weinberg anderen Winzern geben, die ihn gewissenhaft verwalten und dem Eigentümer seinen Anteil abliefern.»

«Ihr habt gut gesprochen. So steht es in der Schrift: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Durch den Herrn ist dies geschehen: ein Wunder vor unseren Augen.“ Weil dies geschrieben steht und ihr es wißt und für gerecht haltet, dass die Mörder des Sohnes und Erben streng bestraft werden und der Weinberg anderen Winzern übergeben wird, die ihn gewissenhaft bebauen, sage ich euch: „Das Reich Gottes wird euch genommen und einem Volk gegeben werden, dass seine Früchte bringt. Und jeder, der gegen diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen.“»

Die Oberen der Priester, die Pharisäer und die Schriftgelehrten reagieren mit heroischer Selbstbeherrschung. Soviel bringt der Wille, einen Zweck zu erreichen, fertig! Um geringer Dinge willen haben sie ihn oft angefeindet, und heute, da ihnen der Herr Jesus offen sagt, dass ihnen die Macht genommen werden wird, schmähen sie ihn nicht, greifen ihn nicht an, bedrohen ihn nicht, sondern spielen die geduldigen Lämmer und verbergen ihr unverbesserliches Wolfsherz scheinheilig unter dem Pelz der Sanftmut.

Sie beschränken sich darauf, immer in seiner Nähe zu bleiben, denn er geht nun wieder auf und ab und hört diesen und jenen unter den vielen Pilgern an, die sich in dem großen Hof versammelt haben. Viele bitten ihn um Rat in Dingen der Seele, in familiären oder zwischenmenschlichen Angelegenheiten, und andere warten darauf, mit ihm sprechen zu können. Sie hören ihm zu, wie er in einer schwierigen Erbschaftsfrage urteilt, die Haß und Zwietracht unter den verschiedenen Erben stiftet. Denn der Vater hatte mit einer Magd des Hauses einen später adoptierten Sohn, aber die ehelichen Söhne wollen ihn weder bei sich haben noch als Miterben bei der Teilung der Häuser und Grundstücke. Vielmehr wollen sie mit dem Bastard nichts mehr zu tun haben und wissen nun nicht, wie das Problem zu lösen ist. Der Vater hat sie nämlich vor seinem Tod schwören lassen, dass sie, so wie er immer das Brot zwischen den ehelichen Söhnen und dem unehelichen geteilt hat, dass Erbe gleichmäßig mit ihm teilen werden.

Jesus sagt zu dem Mann, der ihn im Namen der anderen Brüder fragt: «Verzichtet alle auf ein Stück Land und verkauft es, so dass es den Geldwert eines Fünftels der ganzen Erbschaft ergibt. Gebt es dem Unehelichen mit den Worten: „Hier ist dein Teil. Du bist nicht um das deine gekommen, und wir haben den Willen unseres Vaters erfüllt. Geh, und Gott sei mit dir.“ Seid großzügig im Geben, gebt eher mehr als den genauen Wert seines Anteils. Und tut es vor gerechten Zeugen, dann wird niemand auf Erden und im Jenseits euch tadeln und Ärgernis nehmen können; dann werdet ihr Frieden in euch und untereinander haben, denn ihr werdet euch nicht vorwerfen müssen, dem Vater ungehorsam gewesen zu sein, und ihr werdet den nicht mehr unter euch haben, der, obwohl unschuldig, euch stärker beunruhigt als ein Dieb.»

Der Mann sagt: «Der Bastard hat wahrlich unserer Familie den Frieden und unserer Mutter die Gesundheit geraubt, so dass sie vor Leid gestorben ist. Er hat einen Platz eingenommen, der ihm nicht zusteht.»

Gesundheit geraubt, so dass sie vor Leid gestorben ist. Er hat einen Platz eingenommen, der ihm nicht zusteht.»

«Nicht er ist der Schuldige, sondern der, der ihn gezeugt hat. Er hat nicht danach verlangt, geboren zu werden und das Mal eines Bastards zu tragen. Die Gier eures Vaters hat ihn gezeugt und ihm und euch Schmerz bereitet. Seid deshalb gerecht mit dem Unschuldigen, der schon schwer genug für eine Schuld bezahlt, die nicht die seine ist. Verflucht nicht die Seele eures Vaters. Gott hat ihn gerichtet. Die Blitze eurer Verwünschungen sind nicht nötig. Ehrt den Vater immer, auch wenn er schuldig ist. Nicht seinetwegen, sondern weil er auf Erden euren Gott vertritt. Er hat euch gezeugt nach der Weisung Gottes, und er ist der Herr eures Hauses. Die Eltern kommen gleich nach Gott. Denke an die Zehn Gebote. Und sündige nicht. Geh in Frieden.»

Die Priester und die Schriftgelehrten treten nun zu Jesus hin, um ihn zu befragen: «Wir haben dich gehört. Du hast recht gesprochen. Einen weiseren Rat hätte nicht einmal Salomon geben können. Aber nun sage uns, du, der du Wunder wirkst und Urteile fällst, wie nur der weise König es hätte tun können, mit welcher Vollmacht tust du dies? Woher kommt dir diese Macht?»

Jesus schaut sie fest an. Er ist weder aggressiv noch verächtlich, doch sehr hoheitsvoll. Er sagt: «Auch ich will euch eine Frage vorlegen, und wenn ihr sie mir beantwortet, werde ich euch sagen, wer mir – dem Menschen ohne die Vollmacht eines Amtes und ohne Reichtum, denn das wollt ihr doch andeuten – die Vollmacht gibt, solche Dinge zu tun. Sagt mir: Woher kam die Taufe des Johannes? Vom Himmel oder vom Menschen, der sie spendete? Antwortet mir. Mit welcher Vollmacht hat Johannes sie gespendet als reinigenden Ritus, um euch auf das Kommen des Messias vorzubereiten, da er doch noch ärmer und ungebildeter war als ich und kein entsprechendes Amt innehatte, denn er hatte seit seiner Kindheit in der Wüste gelebt?»

Die Schriftgelehrten und Priester beraten sich. Das Volk drängt sich heran mit weit offenen Augen und Ohren, um zu protestieren, sollten die Schriftgelehrten den Täufer herabsetzen und den Meister beleidigen, oder um Beifall zu spenden, falls sie durch die göttliche Weisheit in der Frage des Rabbi von Nazareth aus der Fassung gebracht würden. Das absolute Schweigen dieser Menge in Erwartung der Antwort ist beeindruckend. Es ist so tief, dass man den Atem und das Flüstern der Priester und Schriftgelehrten hört, die fast stimmlos miteinander sprechen und dabei auf das Volk schielen, dessen explosive Stimmung sie fühlen. Endlich entschließen sie sich zu einer Antwort. Sie wenden sich Christus zu, der mit über der Brust gekreuzten Armen an einer Säule lehnt und sie nicht aus den Augen läßt, und sagen: «Meister, wir wissen nicht, mit welcher Vollmacht Johannes dies getan hat und woher seine Taufe kam. Niemand hat daran gedacht, den Täufer zu fragen, solange er lebte, und er selbst hat es auch nie gesagt.»

«Dann sage auch ich euch nicht, mit welcher Vollmacht ich dies tue.»Er kehrt ihnen den Rücken, ruft die Zwölf zu sich, teilt die Beifall spendende Menge und verläßt den Tempel.

Als sie schon draußen, jenseits des Probatica-Teichs sind – denn auf dieser Seite sind sie hinausgegangen – sagt Bartholomäus: «Deine Gegner sind sehr vorsichtig geworden. Vielleicht sind sie im Begriff, sich zum Herrn zu bekehren, der dich gesandt hat, und werden dich bald als den heiligen Messias anerkennen.»

«Es ist wahr. Sie haben weder deine Frage noch deine Antwort angegriffen ...» sagt Matthäus.

«So ist es. Es ist schön, dass Jerusalem sich zum Herrn, seinem Gott, bekehrt», sagt Bartholomäus noch.

«Macht euch keine Illusionen. Dieser Teil Jerusalems wird sich niemals bekehren. Sie haben nur nicht anders geantwortet, weil sie das Volk fürchten. Ich habe zwar ihre geflüsterten Worte nicht verstanden, aber ich habe ihre Gedanken gelesen.»

«Und was haben sie gesagt?» fragt Petrus.

«Dies haben sie gesagt. Ich wünsche, dass ihr es wißt, damit ihr sie gründlich kennenlernt und den künftigen Menschen eine genaue Beschreibung der Herzen der Menschen meiner Zeit geben könnt. Sie haben nicht geantwortet, nicht weil sie sich zum Herrn bekehren, sondern weil sie entschieden hatten: Wenn wir sagen: „Die Taufe des Johannes kam vom Himmel“, wird der Rabbi uns antworten: „Warum habt ihr dann nicht an das geglaubt, was vom Himmel kam und die Vorbereitung auf die messianische Zeit bedeutete?“ Sagen wir aber: „Vom Menschen“, wird das Volk sich auflehnen und sagen: „Und warum glaubt ihr dann nicht, was Johannes, unser Prophet, über Jesus von Nazareth gesagt hat?“ Es ist deshalb besser zu antworten: „Wir wissen es nicht.“ Das ist es, was sie sagten. Nicht, weil sie sich zu Gott bekehrt haben, sondern aus niedriger Berechnung und um nicht bekennen zu müssen, dass ich der Christus bin und tue, was ich tue, weil ich das Lamm Gottes bin, von dem der Vorläufer gesprochen hat. Also wollte auch ich nicht sagen, mit welcher Vollmacht ich tue, was ich tue. Schon oft habe ich es in diesen Mauern und in ganz Palästina gesagt, und meine Wunder sprechen noch mehr als meine Worte. Nun werde ich es nicht mehr mit Worten sagen. Ich werde die Propheten und meinen Vater sprechen lassen und die Zeichen des Himmels. Denn die Zeit ist gekommen, in der alle Zeichen gegeben werden. Jene, von denen die Propheten gesprochen haben und die in den Symbolen unserer Geschichte ausgedrückt sind, und das Zeichen, dass ich genannt habe: das Zeichen des Jonas. Erinnert ihr euch des Tages in Kedes? Es ist das Zeichen, auf das Gamaliel wartet. Du, Stephanus, du, Hermas, und du, Barnabas, der du heute deine Gefährten verlassen hast, um mir zu folgen, ihr habt den Rabbi gewiss oft über dieses Zeichen reden gehört. Nun, dieses Zeichen wird bald gegeben werden.»

Jesus entfernt sich durch die Ölgärten auf dem Berg, gefolgt von den Seinen, vielen Jüngern (aus den zweiundsiebzig) und anderen, wie Joseph Barnabas, die ihn noch sprechen hören wollen.

DER MONTAG VOR DEM PASSAHFEST 11. DIE NACHT IN GETHSEMANE

Jesus ist am Abend noch im Ölgarten. Er ist mit seinen Aposteln dort und spricht wieder.

«Wieder ist ein Tag vergangen. Nun kommt die Nacht, dann der Morgen, und dann noch ein Morgen, und dann das Passahmahl.»

«Wo werden wir es halten, mein Herr? Dieses Jahr sind auch die Frauen bei uns», fragt Philippus.

«Und noch haben wir nichts vorbereitet, und die Stadt ist überfüllt. Es scheint, als wäre dieses Jahr ganz Israel, bis zum entferntesten Proselyten, zum Fest herbeigeeilt», sagt Bartholomäus.

Jesus betrachtet ihn und sagt, als ob er einen Psalm aufsagen würde: «Sammelt euch, beeilt euch, eilt herbei, schart euch von allen Seiten um das Opfer, dass ich euch bereiten will; um das große, auf den Bergen Israels dargebrachte Opfer, um sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken.»

«Aber welches Opfer? Welches? Du gleichst einem, den eine fixe Idee beherrscht. Du sprichst nur vom Tod... Und du betrübst uns», sagt Bartholomäus heftig.

Jesus wendet seinen Blick von Simon ab, der sich über Jakobus des Alphäus und über Petrus beugt und mit ihnen redet, schaut ihn lange an und sagt dann: «Wie? Du fragst mich das? Du gehörst doch nicht zu den Kleinen, die, um verstehen zu können, erst das siebenfache Licht empfangen müssen. Du warst in der Schrift schon bewandert, bevor ich dich durch Philippus an jenem linden Frühlingsmorgen rief. Am Morgen meines Frühlings. Und du fragst noch, welches das Opfer ist, dass auf dem Berg dargebracht wird und zu dem alle kommen werden, um sich daran zu laben? Und du sagst, ich leide an einer fixen Idee, weil ich vom Tod rede? Oh, Bartholomäus! Wie den Ruf der Wächter habe ich in eure Finsternis, die sich nie dem Licht geöffnet hat, einmal, zweimal, dreimal, die Ankündigung gerufen. Aber ihr wolltet nie verstehen. Ihr habt einen Augenblick darunter gelitten, und dann... Wie Kinder habt ihr schnell die Worte des Todes vergessen und seid fröhlich zu eurer Arbeit zurückgekehrt, eurer selbst sicher und in der Hoffnung, dass meine und eure Worte die Welt immer mehr überzeugen würden, ihrem Erlöser zu folgen und ihn zu lieben.

Nein. Erst nachdem dieses Land gegen mich gesündigt hat – und denkt daran, es sind die Worte des Herrn zu seinen Propheten – erst dann, danach, wird das Volk, und nicht nur dieses Volk allein, sondern das große Volk Adams, zu seufzen beginnen: „Laßt uns zum Herrn gehen. Er, der uns geschlagen hat, wird uns auch heilen.“ Und die Welt der Erlösten wird sagen: „Nach zwei Tagen, also nach zwei Zeiten der Ewigkeit, in denen er uns der Gewalt des Feindes überläßt, der uns mit allen Waffen schlagen und töten wird, mit denen wir den Heiligen geschlagen und getötet haben – und wir schlagen und töten ihn noch, denn es wird immer Nachkommen Kains geben, die den Sohn Gottes, den Erlöser, töten durch Gotteslästerung und böse Werke; die tödliche Pfeile nicht auf ihn, den in Ewigkeit Verherrlichten, sondern auf ihre eigenen, von ihm losgekauften Seelen schleudern und sie töten, und mit ihrer Seele auch ihn – erst nach diesen zwei Zeiten wird der dritte Tag kommen, und wir werden vor seinem Angesicht im Reich des Christus auf Erden auferstehen und vor ihm leben im Triumph des Geistes. Wir werden ihn kennen. Wir werden lernen, den Herrn zu erkennen, um durch die wahre Erkenntnis Gottes bereit zu sein, die letzte Schlacht Luzifers zu bestehen, die er den Menschen liefern wird vor dem Posaunenstoß des siebten Engels. Und dieser wird den seligen Chor der Heiligen Gottes in ewig vollständiger Zahl eröffnen – weder der kleinste Säugling noch der älteste Greis kann dieser Zahl jemals noch hinzugefügt werden. Der Chor wird singen: „Zu Ende ist das arme Reich der Erde. Die Welt mit all ihren Bewohnern ist vorübergezogen vor dem prüfenden Auge des siegreichen Richters. Und die Erwählten sind nun in der Hand unseres Herrn und seines Christus, und er ist unser König auf ewig. Lob sei dem Herrn, dem allmächtigen Gott, der ist, der war und der sein wird, denn er hat seine große Macht ergriffen und die Herrschaft angetreten.“

Oh, wer von euch wird sich der Worte dieser Prophezeiung erinnern, die schon verschleiert in den Worten Daniels anklingt und nun ertönt durch die Stimme des Weisen vor einer betroffenen Welt und vor euch, die ihr noch betroffener seid als die Welt?

„Die Ankunft des Königs – wird die Welt seufzend fortfahren, über ihre Wunden klagend, eingeschlossen in ihrem Grab, weder tot noch lebendig, gefangen in ihrem siebenfachen Laster und ihren unendlichen Häresien, mit dem sterbenden Geist der verfinsterten Welt und unter den letzten Anstrengungen ihres aussätzigen, an allen seinen Irrtümern abgestorbenen Leibes – die Ankunft des Königs ist sicher wie die Morgenröte, und er kommt zu uns wie der Frühlings- und Herbstregen.“

Die Nacht geht dem Sonnenaufgang voraus und bereitet ihn vor. Dies ist die Nacht. Die jetzige Nacht. Was soll ich dir tun, Ephraim, was soll ich dir tun, Juda? ... Simon, Bartholomäus, Judas und ihr Vettern, die ihr die Schrift studiert habt, kennt ihr diese Worte? Nicht von einem verwirrten Geist, sondern von einem, der die Weisheit und die Wissenschaft kennt, stammen sie. Wie ein König, der seine Schatzkammer öffnet und sicher weiß, wo das gesuchte Juwel ist, da er es eigenhändig dort hineingelegt hat, zitiere ich die Propheten. Ich bin das Wort. Jahrhundertelang habe ich durch menschliche Lippen gesprochen. Und jahrhundertelang werde ich durch menschliche Lippen sprechen. Aber alles, was an Übernatürlichem gesagt wird, ist mein Wort. Der Mensch, selbst der heiligste und gelehrteste, könnte nicht von sich aus als ein Adler der Seele über die Grenzen der blinden Welt aufsteigen, um die ewigen Geheimnisse zu erfassen und sie auszusprechen.

Die Zukunft ist Gegenwart nur im Geist Gottes. Töricht sind alle, die glauben, prophezeien und offenbaren zu können, ohne durch unseren Willen erhoben zu sein. Und bald straft Gott sie Lügen und bestraft sie, denn nur einer kann sagen: „Ich bin“ und „Ich sehe“ und „Ich weiß“. Aber wenn ein Wille, den man nicht ermessen und nicht beurteilen kann, sondern mit gesenktem Haupt und den Worten: „Hier bin ich“ ohne Widerrede annehmen muss, sagt: „Komm, steige herauf, höre, sieh und wiederhole“, dann sieht und zittert die Seele, versenkt in die ewige Gegenwart ihres Gottes. Sie sieht und weint, sieht und jubiliert, vom Herrn dazu berufen, „Stimme“ zu sein. Dann hört die vom Herrn berufene Seele, „Wort“ zu sein, und spricht in Ekstase oder von Todesschweiß bedeckt die furchtbaren Worte des ewigen Gottes. Denn jedes Wort Gottes ist furchtbar, da es von dem kommt, dessen Urteil unveränderlich und dessen Gerechtigkeit unwiderruflich ist, und da es an die Menschen gerichtet ist, von denen allzu viele nicht Liebe und Segen, sondern Blitz und Verurteilung verdienen. Und wird dieses Wort, dass gegeben und mißachtet wird, nicht zur Ursache einer schrecklichen Schuld und Strafe für jene, die es gehört und abgelehnt haben? So wird es sein.

Was hätte ich noch tun sollen, was ich nicht schon getan habe, o Ephraim, o Juda, o Welt? Ich bin gekommen, o mein Land, dich zu lieben, und mein Wort ist zum Schwert geworden, dass dich tötet, weil du es verachtet hast. O Welt, die du deinen Erlöser tötest in dem Glauben, ein gerechtes Werk zu tun, du bist so satanisch besessen, dass du nicht einmal mehr begreifst, welches Opfer Gott verlangt; das Opfer der eigenen Sünde, und nicht das eines Tieres, dass geopfert und verzehrt wird mit unreiner Seele. Was habe ich dir denn in diesen drei Jahren gesagt? Was habe ich gepredigt? Ich habe gesagt; „Erkennt Gott in seinen Geboten und in seiner Natur.“ Ich habe euch die lebenswichtige Kenntnis des Gesetzes Gottes eingegossen und bin nun trocken wie ein poröses tönernes Gefäß in der Sonne. Und du hast weiterhin Brandopfer dargebracht, ohne jemals das einzig Notwendige darzubringen: Das Opfer deines bösen Willens an den wahren Gott!

Nun sagt der ewige Gott zu dir, sündige Stadt, treuloses Volk – und in der Stunde des Gerichtes wirst du geschlagen werden, wie weder Rom noch Athen geschlagen werden, weil sie jetzt töricht sind und das Wort und die Wissenschaft nicht kennen. Aber wenn sie, die ewigen, von ihrer Amme schlecht gepflegten und in ihren Fähigkeiten zurückgebliebenen Kinder, einmal in die Arme meiner heiligen Kirche gelangen, meiner einzigen wunderbaren Braut, die Christus unzählige und seiner würdige Kinder gebären wird, dann werden auch sie erwachsen und fähig werden und mir Reiche und Heere schenken, Tempel und Heilige, die den Himmel gleich Sternen bevölkern werden – nun sagt der ewige Gott zu dir: „Ich habe kein Wohlgefallen mehr an euch und nehme keine Gaben mehr an aus eurer Hand. Sie sind für mich wie Mist, und ich schleudere ihn euch ins Angesicht, und er wird an euch hängenbleiben. Eure Feste, die nur Äußerlichkeit sind, widern mich an. Ich löse den Bund mit dem Geschlecht Aarons und schließe ihn mit den Kindern Levis; denn dieser ist mein Levi, und mit ihm habe ich einen ewigen Bund des Lebens und des Friedens geschlossen, und er war mir treu von Ewigkeit zu Ewigkeit, bis zum Opfer. Er kannte die heilige Furcht vor dem Vater und zitterte vor seinem beleidigten Zorn, zitterte schon beim Klang meines beleidigten Namens. Das Gesetz der Wahrheit war in seinem Mund, und auf seinen Lippen war keine Ungerechtigkeit. Er wandelte mit mir in Frieden und Gleichmut und entriß viele der Sünde. Die Zeit ist gekommen, da an jedem Ort, und nicht mehr auf dem einzigen Altar in Sion, da ihr unwürdig seid sie zu opfern, meinem Namen die reine, makellose und dem Herrn wohlgefällige Hostie dargebracht werden wird.“

Erkennt ihr die ewigen Worte?»

«Wir erkennen sie, o unser Herr. Und glaube uns, wir sind zutiefst betrübt und völlig niedergeschmettert. Ist es denn nicht möglich, dem Schicksal zu entgehen?»

«Du nennst es Schicksal, Bartholomäus?»

«Ich wüßte keinen anderen Namen...»

«Wiedergutmachung ist sein Name. Man beleidigt den Herrn nicht, ohne dass die Beleidigung wiedergutgemacht werden müßte. Und der Schöpfergott wurde vom ersten Geschöpf beleidigt. Seither hat die Zahl der Beleidigungen beständig zugenommen. Weder die Wasser der großen Flut noch das Feuer auf Sodom und Gomorrha halfen, den Menschen heilig zu machen. Weder das Wasser noch das Feuer. Die Erde ist ein grenzenloses Sodom, dass Luzifer frei und ungehindert durchstreift. Daher muss eine Dreiheit kommen, um sie zu reinigen: Das Feuer der Liebe, dass Wasser des Schmerzes und das Blut des Opfers. Hier, o Erde, ist mein Geschenk. Ich bin gekommen, es dir zu geben. Und nun sollte ich vor der Vollendung fliehen? Es ist Passah. Man kann nicht fliehen.»

«Warum gehst du nicht zu Lazarus? Das wäre keine Flucht. Aber bei ihm würde dir niemand etwas antun.»

«Simon hat recht. Ich bitte dich, Herr, tue es!» ruft Judas Iskariot und wirft sich Jesus zu Füßen.

Johannes beginnt daraufhin heftig zu weinen, und auch die Vettern und Jakobus und Andreas weinen, wenngleich etwas verhaltener in ihrem Schmerz.

«Du glaubst an mich als den „Herrn“? Schau mich an!» und Jesus prüft mit scharfen Augen das verängstigte Gesicht des Iskariot. Er ist wirklich verängstigt und tut nicht nur so. Vielleicht ist es der letzte Kampf seiner Seele mit Satan, und er weiß nicht, wie er siegen soll. Jesus studiert ihn und verfolgt den Kampf, wie ein Wissenschaftler die Krise eines Kranken studieren könnte. Dann steht er plötzlich mit einem Ruck auf, so plötzlich, dass Judas, der sich an seine Knie lehnt, zurückgestoßen wird und auf dem Boden sitzt. Jesus weicht sogar mit betrübtem Gesicht einige Schritte zurück und sagt: «Damit auch Lazarus gefangengenommen wird? Damit es doppelte Beute und damit eine doppelte Freude gibt? Nein. Lazarus bewahrt sich für den zukünftigen Christus, den triumphierenden Christus. Nur einer wird aus dem Leben scheiden und nicht zurückkehren. Ich werde wiederkommen. Aber er wird nicht wiederkommen. Lazarus bleibt. Du weißt so vieles, du weißt auch dies. Doch jene, die auf doppelten Gewinn hoffen und den Adler zusammen mit dem Jungen mühelos im Nest fangen wollen, können sicher sein, dass der Adler Augen für alles hat und sich aus Liebe zu seinem Jungen vom Nest entfernen wird, um allein gefangen zu werden und das Junge zu retten. Ich werde vom Haß getötet, und doch liebe ich weiterhin. Geht. Ich bleibe, um zu beten. Niemals habe ich es so nötig gehabt wie in dieser Stunde, meine Seele zum Himmel zu erheben.»

«Laß mich bei dir bleiben, Herr», bittet Johannes.

«Nein, ihr alle habt Ruhe nötig. Geh.»

«Bleibst du allein? Und wenn sie dir etwas Böses tun? Du scheinst auch krank zu sein... Ich bleibe», sagt Petrus.

«Du gehst mit den anderen. Laßt mich für eine Stunde die Menschen vergessen. Laßt mich mit den Engeln meines Vaters zusammensein! Sie werden mir die Mutter ersetzen, die sich im Gebet und unter Tränen quält und die ich nicht noch mehr belasten kann mit meinem untröstlichen Leid. Geht.»

«Gibst du uns nicht den Frieden?» fragt der Vetter Judas.

«Du hast recht. Der Friede des Herrn komme über alle, die in seinen Augen kein Abscheu sind. Lebt wohl.» Jesus geht einen Hang hinauf und zieht sich ins Dickicht der Ölbäume zurück.

«Und doch... was er sagt, steht wirklich in der Schrift! Und wenn man es von ihm hört, dann versteht man auch, warum und für wen es gesagt wurde», murmelt Bartholomäus.

«Ich habe es Petrus im Herbst des ersten Jahres gesagt ...» sagt Simon.

«Das ist wahr... Aber... Nein! Solange ich lebe, lasse ich es nicht zu, dass er gefangengenommen wird. Morgen ...» sagt Petrus.

«Was wirst du morgen tun?» fragt Iskariot.

«Was ich tun werde? Ich rede nur mit mir selbst. Es ist die Zeit des Verrats. Nicht einmal der Luft würde ich meine Gedanken anvertrauen. Und du, du hast so oft gesagt, wie einflußreich du bist, warum versuchst du nicht, Schutz für Jesus zu erlangen?»

«Ich werde es tun, Petrus. Ich werde es tun. Wundert euch nicht, wenn ich manchmal abwesend sein werde. Ich arbeite für ihn. Sagt es ihm aber nicht.»

«Sei beruhigt. Und sei gesegnet. Manchmal habe ich dir nicht getraut, aber ich bitte dich dafür um Entschuldigung. Ich sehe, dass du zur rechten Zeit besser bist als wir. Du tust etwas... Ich hingegen kann nur reden», sagt Petrus demütig und aufrichtig.

Und Judas lacht, als ob er erfreut wäre über das Lob. Sie verlassen Gethsemane und gehen auf die Straße, die nach Jerusalem führt.